Am Winterfeldt: Gentrification durch Bauspekulation, Abriss und Neubau

Oder warum in Berlin so oft das Falsche gebaut wird

von Matthias Bauer

Zwischen Elßholz-, Pallas- und Gleditschstraße in Berlin-Schöneberg wird zur Zeit eine Wohnanlage gebaut, vom Investor stolz „Am Winterfeldt“ genannt. Auf dem 6017 m² großen Grundstück entstehen 225 Eigentumswohnungen mit großzügigen Grundrissen – beispielsweise eine 3-Zimmer-Wohnung mit 184,49 m² an der Gleditschstraße, die 2.847.345 € kosten soll. Die Quadratmeterpreise liegen um die 15.000 €. Kaum ein Bewohner des Schöneberger Nordens wird dort je einziehen können.

Noch ist nicht alles verkauft – denn auf dem Markt gibt es viele solche Angebote. Was der Markt nicht bietet – trotz starker Nachfrage – sind bezahlbare Wohnungen. Wie kommt es dazu? Hätte die Bezirkspolitik der Entwicklung eine andere Richtung geben können? Dank einer Grundbuchrecherche gibt es nun Antworten auf die Frage.

Der erste Verkauf

Am 8. Dezember 2016 schließen die „AOK Nordost – die Gesundheitskasse“ und Herr Marius Freiherr Marschall von Bieberstein für evoreal green Portfolio GmbH und CO KG einen Kaufvertrag ab über mehrere ehemalige AOK-Standorte. Der Kaufpreis beträgt 77.776.000 €. Davon entfallen 22.900.000 € auf das Grundstück an der Pallasstraße in Schöneberg.

Verzicht auf das Vorkaufsrecht

Einen Monat später verzichtete der Bezirk Tempelhof-Schöneberg auf sein Vorkaufsrecht, das ihm nach §24 Baugesetzbuch zustand. [ Link Faksimile Negativzeugnis ] Eigentlich hätte der Bezirk drei Monate Zeit gehabt für die Entscheidung. Warum solche Eile? Und warum entschied die Verwaltung ohne Einbeziehung der gewählten Bezirksverordneten? War wenigstens der damals frisch gewählte Stadtrat für Stadtentwicklung Jörn Oltmann mit beteiligt?

Welche Argumente gab es, das Vorkaufsrecht nicht wahrzunehmen? Die 3.740,- €/m² Grundstücksfläche sind natürlich ein gutes Gegenargument! Aber hat der Bezirk überhaupt erwogen, das Vorkaufsrecht wahrzunehmen, z. B. zugunsten einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft? Jörn Oltmann, inzwischen Bürgermeister, leitete meine Anfrage an Bezirksstadträtin Eva Majewski weiter. Frau Majewski antwortete, die zu prüfenden „inhaltlichen“ Voraussetzungen für eine Ausübung des Vorkaufsrecht hätten nicht vorgelegen, weil das Grundstück nicht mit einem Wohngebäude bebaut gewesen sei. Weiter schreibt sie:

„ . . . Die Ausübung des Vorkaufsrechts hätte in seiner erhaltungsrechtlichen Ausprägung daher nicht dem Wohl der Allgemeinheit gedient und wäre somit nicht begründbar gewesen . . .“

Es ist schon beeindruckend, wie Gesetzestexte interpretiert werden können. Im §24 Baugesetzbuch (3) heißt es:

3) Das Vorkaufsrecht darf nur ausgeübt werden, wenn das Wohl der Allgemeinheit dies rechtfertigt. Dem Wohl der Allgemeinheit kann insbesondere die Deckung eines Wohnbedarfs in der Gemeinde dienen. Bei der Ausübung des Vorkaufsrechts hat die Gemeinde den Verwendungszweck des Grundstücks anzugeben.

Von einer Einschränkung des Vorkaufsrechts auf Grundstücke mit Wohngebäuden ist da nicht die Rede.

Der zweite Verkauf mit knapp 64% Gewinn

Am 14.01.2019 verkaufte Herr Michael Marius Christopher Sven Robert Freiherr Marschall von Bieberstein das Grundstück weiter an die Diamona & Harnisch Berlin Development GmbH & Co. Friedrichshain KG, die von Alexander Harnisch vertreten wurde. Der Kaufpreis betrug nun 37.500.000 €. Wieder verzichtete der Bezirk auf sein Verkaufsrecht – diesmal schon nach 14 Tagen.

Was geschah in der Zeit zwischen den beiden Verkäufen Dezember 2016 und Januar 2019? Im Kaufvertrag von Januar 2019 heißt es dazu in §1 Absatz 9:

. . . Der Verkäufer hat in der Vergangenheit bereits Gespräche mit der zuständigen Behörde in Bezug auf eine künftige Bebaubarkeit des Kaufobjekts geführt . . .

Nach den Gesprächen stieg der Wert des Grundstücks um 14,6 Mio. € in Cash, also um knapp 64%. Der Inhalt der Gespräche ist nicht bekannt. Auf Nachfrage wollten sich weder das Bezirksamt noch der Freiherr dazu äußern. Vermutlich hatte die Bezirksverwaltung signalisiert, dass sie einem Abriss des AOK-Gebäudes zustimmen würde ebenso wie einer dichten Bebauung mit Eigentumswohnungen – und das ohne nerviges Bebauungsplanverfahren.

Kurzer Streit um die Baugenehmigung

Trotz getroffener Absprachen und einem Bauvorbescheid für 17.000 m² Bruttogeschossfläche [ BGF erklärt von Wikipedia ] aus dem Jahr 2019 gab es im Sommer 2021 dann doch einen Streit um die Baugenehmigung. Denn der Bauherr hatte nun 22.000 m² Bruttogeschossfläche geplant. Diese Baumasse war dem Bezirk zu viel ebenso wie die brutale Brandwand, die an die Vorgärten der Häuser an der Gleditschstraße 33 angrenzen sollte. Der Antragsteller legte Widerspruch ein bei der Senatsverwaltung. In unwürdiger Weise schoben daraufhin Bezirk und Senat die Verantwortung hin und her. Angesicht der öffentlichen Proteste wollte der Bezirk die Verantwortung nicht mehr tragen. Denn inzwischen hatten Nachbarn von dem Vorhaben erfahren. Eine Petition richtete sich gegen Luxuswohnen im Kiez. Der Quartiersrat Schöneberger Norden forderte die Aufstellung eines Bebauungsplans, um wenigstens 30% Sozialwohnungen zu erreichen. Der Baustadtrat Oltmann lehnte das ab, das Projekt müsse nach vorhandenem Baurecht genehmigt werden. Schließlich erteilte die Senatsverwaltung die Baugenehmigung mit leicht reduzierter Baumasse und einem Rücksprung der Fassade an der Gleditschstraße 33. Gerüchtweise sollte es auch ein paar Sozialwohnungen geben. Auf der Webseite des Projektentwicklers sucht man diese jedoch vergeblich.

Abriss mit Ökosiegel „Gold-Standard“

Nachdem eine Klage von Nachbarn gegen die Baugenehmigung beim Verwaltungsgericht gescheitert war [ Link zum Artikel im Tagesspiegel vom 26.01.22 ], ging es dann ganz schnell – aber natürlich mit Öko-Siegel. So hieß es im November 2021 auf der Webseite des Investors [ Link zur Website https://www.amwinterfeldt.com ]:

Bei unserem neuen Projekt “Am Winterfeldt” kann Diamona & Harnisch erfreulicherweise verkünden, dass es seine Planung und Bauausführung an den DGNB (Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen – DGNB e.V. https://www.dgnb.de/de ) Gold-Standard angepasst hat. Das DGNB-Nachhaltigkeitskonzept dazu basiert auf einem Dreisäulenmodell bestehend aus Ökonomie, Ökologie und Sozialem . . .

Im gleichen Monat begann der Abriss. Im Februar 2022 sah das Grundstück aus wie ein Trümmerfeld. Ca. 8000 m² Gebäudefläche fielen in kurzer Zeit den Abrissbaggern zum Opfer. Tag für Tag bissen sich die Bagger in die Betonrippendecken, die die Baumeister der AOK Anfang der 1960er Jahre für Traglasten von 500 kg/m² ausgelegt hatten (das Doppelte dessen, was im Wohnungsbau üblich ist). Überschlägig berechnet waren es 2.400 Tonnen CO2 an grauer Energie, die unwiederbringlich verloren gingen.

Alles – Beton, Steine, Stahl, wahrscheinlich auch die Bleischürzen, mit denen Wände der Röntgenräume ausgestattet waren und vermutlich auch Asbest, landete im Müll. Zwar war dem Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit Berlin (LAGetSi) [ Link zur IFG-Anfrage „Asbest´“ auf dem Portal Frag-den-Staat ] der Ausbau von festgebundenen Asbest in Rohrschächten und Fensterbänken angezeigt worden, dessen fachgerechte Sanierung unter luftdichter Abschottung durch zwei Personen angeblich zeitgleich mit dem Abriss stattgefunden haben soll. Eine Anzeige von Anwohner:innen [ Link zum Text der Anzeige vom 23.06.2022 ] wegen unsachgemäßen Umgang mit Asbest wurde von der Staatsanwaltschaft [ Link zum Einstellungsbescheid vom 13.06.2023 ] jedoch nicht weiterverfolgt.

Bei der Einsicht ins Grundbuch wurde nun deutlich, dass noch in weiteren Bauteilen Schadstoffe vorhanden waren. Im Kaufvertrag vom 14.01.2019 ist die Rede von chemischer Luftbelastung, aufgrund derer Fußböden versiegelt und die Nutzung von Räumen habe eingeschränkt werden müssen. Als Anlage zum Kaufvertrag wird ein Schadstoffgutachten erwähnt. Ein Antrag nach Informationsfreiheitsgesetz auf Einsicht in das Gutachten blieb jedoch bisher erfolglos. Die AOK-Nordost verweigerte die Herausgabe mit Hinweis auf die Interessen des Käufers. Die Beschwerde dagegen liegt seit September 2023 bei der Brandenburger Datenschutzbeauftragen, bisher ohne Ergebnis [ Link zur IFG-Anfrage „Schadstoffgutachten“ auf dem Portal Frag-den-Staat ]. Die Beteiligten, bei evoreal green Portfolio GmbH und CO KG und Diamona & Harnisch wollten sich zum Sachverhalt nicht äußern. Die Pressestelle der AOK Nordost antwortete auf die Frage, um welche Schadstoffe es sich gehandelt habe, die Probleme seien auf wenige Räume beschränkt gewesen und durch gutes Lüftungsverhalten abgestellt worden.

Zurück zur Frage, ob der Bezirk hier die Weichen hätte anders stellen können?

Im Baugesetzbuch §1 Absatz 3 heißt es:

Die Gemeinden haben die Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist; die Aufstellung kann insbesondere bei der Ausweisung von Flächen für den Wohnungsbau in Betracht kommen . . .

Dagegen steht die Meinung des Bezirksamtes, die im Protokoll der Sitzung des Stadtentwicklungsausschuss vom 14.04.2021 festgehalten wurde:

Das Bezirksamt sieht keinen Grund für ein Bebauungsplanverfahren, denn Rechtsgrundlage hierfür wäre ein Planungserfordernis. Es gibt aber bereits ein Planungsrecht für dieses Grundstück, das heißt, der Grundstückseigentümer darf prinzipiell dieses Grundstück bereits bebauen. Das Planungsrecht stammt aus dem Jahr 1960 und schreibt die Nutzung für Wohnungen und Einzelhandelsflächen hier vor, dies ist auch im Sinne des Bauherren. Ein Planungserfordernis zur Art der Nutzung besteht also nicht, damit ist ein Bebauungsplanverfahren nicht nötig und möglich.

Brauchen wir neue, bezahlbare Wohnungen? Wollen wir eine städtebauliche Entwicklung und Ordnung, bei der die soziale Mischung erhalten bleibt? Die Mehrheit der Bezirksverordneten würden beide Fragen sicher mit JA beantworten. Die Bezirksverordnetenversammlung könnte sich also städtebauliche Ziele setzen und diese mit Bebauungsplänen umsetzen – sobald und soweit es erforderlich ist.

Zur Vorbereitung des Verkaufs im Jahr 2016 hatten sich die AOK und vermutlich auch verschiedene Kaufinteressenten beim Bezirk erkundigt, welches Baurecht für das Grundstück gilt.

In einer Antwort des Bezirksamtes auf ein solche Anfrage vom September 2016 [ Link zum Faksimile des Schreibens ] wird der Baunutzungsplan von 1958 genannt, der als Maß der Nutzung eine GFZ eine 1,5 vorsah. (GFZ = Geschossflächenzahl, gibt das Maße der Nutzung an, hier 1,5 m² Nutzfläche pro 1 m² Grundstücksfläche.) Außerdem wurde ein Genehmigungsvorbehalt bezüglich der Begründung von Wohneigentum [ Link zum Text der Verordnung ] erwähnt, da sich das Grundstück im Gebiet einer Sozialen Erhaltungssatzung befindet. Was nun tatsächlich gebaut wurde, ist ausschließlich Wohneigentum und vom Volumen her ungefähr das Doppelte des vorhandenen Baurechts – ohne dass eine Gegenleistung hierfür erkennbar ist. Das Baurecht hätte aus dem geltendem Planungsrecht eigentlich nicht abgeleitet werden können.

Als die Senatsverwaltung später die Baugenehmigung erteilte, wurde der Baunutzungsplan von 1958 einfach beiseite gewischt und das Vorhaben nach §34 „Unbeplanter Innenbereich“ genehmigt, so die Antwort des Bezirksamtes auf eine Anfrage im Januar 2022. Im gleichem Dokument hieß es:

„ . . . der von der Verwaltung aufgezeichnete Weg, einen Bebauungsplan ins Verfahren zu geben (um so die planungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Umsetzung zu schaffen), wurde vom Bauherrn abgelehnt . . .“

Ist es die Bezirksverordnetenversammlung oder der Eigentümer, der bestimmt, ob ein Bebauungsplan aufgestellt wird? Ging es darum in den Gesprächen, die der Freiherr mit der Bezirksverwaltung führte und über die die Beteiligten keine Auskunft geben möchten?

Auch nach dem ersten Verkauf 2016, als mit dem Freiherrn Gespräche über die Bebaubarkeit geführt wurden, wäre die Aufstellung eines Bebauungsplans noch möglich gewesen. Die Verwaltung des Bezirks entschied anders – ohne Einbeziehung der gewählten Bezirksverordneten.

Der ehemalige Senatsbaudirektor Dr. Stimmann ist ebenfalls überzeugt, dass der Bezirk einen Bebauungsplan hätte aufstellen können. Im Interview mit dem Tagesspiegel am 19.04.2021 sagte er:

. . . Anders ist das bei der Fassade. Wenn die dem Bezirk nicht gefällt, muss er einen Bebauungsplan aufstellen und dabei seinen Vorstellungen entsprechende Regelungen treffen. Das hat der Bezirk aber nicht gemacht und damit auf seine Einflussmöglichkeiten verzichtet . . .

Fazit

Die Bezirksverordnetenversammlung von Tempelhof-Schöneberg hat die Einflussmöglichkeiten, die das Baugesetzbuch bietet, nicht genutzt. Der Verzicht auf die Einflussmöglichkeiten war jedoch nicht freiwillig gewählt – und dabei geht es nicht nur um die Fassaden, sondern vielmehr um den sozialen Inhalt. Als die Bezirksverordneten zum ersten Mal von dem Bauvorhaben erfuhren, hatte die Verwaltung schon einen Vorbescheid erteilt und damit rechtsverbindliche Fakten geschaffen.

Das Grundstück an der Pallasstraße ist kein Einzelfall. Fast alles, was in den letzten Jahren in der Innenstadt gebaut wurde, geht am Bedarf vorbei. Gebaut werden fast ausschließlich teure Eigentumswohnungen oder Büroraum. Während der Wohnungsmarkt für die breite Masse wie leergefegt ist, stehen hochpreisige Neubauwohnungen leer, z. B. einige hundert in der neuen Europa-City. Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen finden in der Innenstadt keine Bleibe mehr. Paare mit Kinderwunsch verabschieden sich aus Berlin. Ist das die städtebauliche Ordnung, die wir wollen?

Ansicht von der Gleditschstraße, Februar 2024
Baugesetzbuch §34 „Unbeplanter Innenbereich“ (1) Innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ist ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist . . .

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3 Kommentare

  1. Wurde denn je untersucht, wer genau in der Verwaltung diese Entscheidungen gefällt hat und warum? Welche Verwaltungspersonen, die ja über jeweilige Legislaturperioden hinaus fest auf ihren Posten bleiben, da dem Ausverkauf Vorschub leisten/ geleistet haben, und welche „Beweggründe“ da im Spiel sind/waren?

    • Es wurde ja auf Verwaltungsebene entschieden, so schnell, dass erst gar nicht PolitikerInnen mehr groß Einfluss nehmen konnten – das lese ich aus dem Artikel heraus.
      Oder wurden dann einfach die Augen zugedrückt?
      Wenn Oltmann und Co das dann so gehandhabt haben, ist es tatsächlich Riesenskandal!

      Was mich auch fassungslos macht: die Staatsanwaltschaft hat den Verdacht auf gesundheitsgefährende Asbestfreisetzung einfach fallengelassen??
      Warum das?

      Dieser Typ, Herr Marius Freiherr Marschall von Bieberstein, macht mich einfach krank! Gier, Gier, Gier. Und fühlt sich garantiert auch noch ganz großartig dabei. Und die Verantwortlichen schauen einfach zu, schlimmstenfalls haben sich der eine oder die andere auch kaufen lassen…

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