von Matthias Bauer
Arbeiten haben begonnen am ehemaligen AOK-Gebäude an der Pallasstraße. Arbeiter sind dabei, Platten mit Dachpappe und Styropor vom Dach zu schaffen. Bald wird es in das Gebäude hinein regnen, offensichtlich steht der Abriss bevor. Im Sommer vor den Wahlen, war das Bauvorhaben „Am Winterfeldt“ noch hoch umstritten. Es gibt seither eine Onlinepetition gegen den Bau der Luxuswohnungen, Bezirk- und Senat schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Keiner wollte derjenige sein, der das Projekt genehmigen muss. Baustadtrat Oltmann wies die Forderung des Quartiersrates, ein ordentliches Bebauungsplanverfahren durchzuführen, zurück.
Der Bauantrag des Investors war vom Bezirk zuerst abgelehnt worden, der Bezirk wollte zuerst nur 17.265 m² Geschossfläche genehmigen. Gegen die Ablehnung hatte der Investor Widerspruch eingelegt bei der nächst höheren Bauaufsicht in der Senatsverwaltung. Dort wurde dem Widerspruch stattgegeben gegen die Zusicherung, dass wenigstens 2000 m² Sozialwohnungen entstehen.
Wie das aussehen soll, ist auf der Webseite https://www.amwinterfeldt.com/ nur teilweise zu sehen: dort wird angegeben 17.468 m² Wohnfläche und 349,05 m² Gewerbefläche. Die 2000 m² Sozialwohnungen werden dort nicht erwähnt, vermutlich weil die Existenz von Sozialwohnungen als nicht verkaufsfördernd angesehen wird. Die Zahlen bedeuten nochmal eine erhebliche Steigerung gegenüber dem Volumen, das der Bezirk ursprünglich genehmigen wollte. Denn die Nutzfläche ist ein Nettowert, normalerweise liegt er bei rund 80% der Geschossfläche, bei der die Außenmaße des Gebäudes angesetzt werden, also Wände und Verkehrsflächen (z. B. Treppenhäuser) mitgerechnet werden. 17.800 m² Nutzfläche entsprechen ca. 22.250 m² Geschossfläche.
Und damit keiner ein schlechtes Gewissen bekommt, heißt auf der Webseite https://www.amwinterfeldt.com/ :
Bei unserem neuen Projekt “Am Winterfeldt” kann Diamona & Harnisch erfreulicherweise verkünden, dass es seine Planung und Bauausführung an den DGNB Gold-Standard angepasst hat. Das DGNB-Nachhaltigkeitskonzept dazu basiert auf einem Dreisäulenmodell bestehend aus Ökonomie, Ökologie und Sozialem:
- Die Ökonomie bezieht sich darauf, dass wir Gebäude wirtschaftlich sinnvoll und über dessen gesamten Lebenszyklus betrachten;
- Die Ökologie steht für den ressourcen- und umweltschonenden Bau von Gebäuden;
- Im Fokus des Sozialen steht der Nutzer und die Nachbarschaft des Gebäudes.
Von nachhaltigem Handeln kann also dann gesprochen werden, wenn diese drei Dimensionen in Einklang gebracht sind.
Ein auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Bauen bedeutet nicht nur den Einsatz umwelt- und gesundheitsfreundlicher, sowie wiederverwertbarer Baumaterialien, sondern auch das Senken des Energiebedarfs oder die Vermeidung hoher Transportkosten und Emissionen durch die bewusste Entscheidung für regionale Baustoffe. Um diesen Anspruch zu dokumentieren hat die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e.V. den DGNB Standard Gold entwickelt. Im Zertifizierungsprozess wird das Bauvorhaben von der Planung über die Auswahl der Materialien bis hin zur Ausführung von Auditoren begleitet und nach dem Bau und der Fertigstellung zertifiziert.
Ist das Bauvorhaben nachhaltig ?
Ist der Abriss von bestehenden Gebäude nachhaltig? Wie viel C02, sogenannte graue Energie, steckt denn in den Bestandsgebäuden? Der große, sechsgeschossige Flügel des ehemaligen AOK-Gebäudes misst 15 m in der Breite und 60 m in der Länge. Der kleinere, viergeschossige Flügel, der an die Gleditschstraße 33 andockt, ist 35 m lang und 15 m breit. Beide Gebäude sind durch einen kleinen Zwischenbau verbunden. Überschlägig berechnet macht das eine Bruttogeschossfläche von 8000 m². Pro m² Geschossfläche können wir mindestens eine Tonne Beton annehmen, die in den Decken und Wänden steckt. Pro Tonne Beton werden mit heutigen Produktionstechniken 300 kg CO2 emittiert, macht bei 8000 Tonnen also 2.400.000 kg CO2 = 2.400 Tonnen CO2. Dabei ist der Stahl, der hier sicher reichlich verbaut wurde, noch gar nicht gerechnet.
Wie viel bedeuten 2.400 Tonnen CO2 ?
2.400 Tonnen CO2 sind gleichbedeutend mit einer 12 Mio. km langen Fahrt mit einem sparsamen Auto, das 200 gr CO2 pro km ausstößt. Die Pro-Kopf-Emissionen in der Bundesrepublik Deutschland betrugen 7,9 Tonnen CO2 im Jahr 2019, Quelle Statista. Rechnet man die CO2-Emissionen auf das ganz Bauvorhaben hoch, ergeben sich bei 22.250 m² Bruttogeschossfläche CO2-Emissionen von 6.675 Tonnen nur für den Rohbau. Von diesen 6.675 Tonnen CO2 hätten 2.400 Tonnen eingespart werden können, wenn die Bestandsgebäude erhalten geblieben wären.
Wären Alternativen möglich gewesen ?
Sicher: Die Bestandsgebäude könnten erhalten bleiben und weiter genutzt werden. Vom Querschnitt her wären die ehemaligen Bürogebäude auch für Wohnungen geeignet. Die Substanz – der Rohbau – ist (noch) völlig in Ordnung. Alles andere, die Technik, die Fenster müssten erneuert werden. Aber das sind Kosten, die auch bei einem Neubau anfallen. Durch den Abriss wird also nachhaltig CO2 verballert.
Wie eine Alternative aussehen könnte, zeigt folgende Zeichnung:
Legende zur Zeichnung
- A = viergeschossiges Bestandsgebäude wird mit zwei Geschossen in Holzbauweise aufgestockt
- B = neues, siebengeschossiges Gebäude entlang der Gleditschstraße
- C = neuer Verbindungsbau, viergeschossig entlang der Pallasstraße zum ehemaligen AOK-Hauptgebäude
- D = das ehemalige AOK-Hauptgebäude wird umgebaut und instandgesetzt
- E = neues siebengeschossige Gebäude entlang der Elßholzstraße mit zwei Seitenflügeln, der Brandwandanbau zur Elßholzstraße 4 ist siebengeschossig, der Verbindungsbau zum ehemaligen AOK-Hauptgebäude ist zweigeschossig.
Bestandsgebäude und neue Gebäude ergeben zusammen ca. 19.000 m² Bruttogeschossfläche, ergibt ca. 15.000 m² Nutzfläche, also etwas weniger als jetzt vorgesehen.
- F = gegenüber der Sophie-Scholl-Schule entsteht ein grüner Platz
- G und H = die neuen und die alten Gebäude bilden gemeinsam zwei grüne Innenhöfe
- I = gestalteter Vorgarten an der Gleditschstraße
Ist das Bauvorhaben sozial verträglich?
„Im Fokus des Sozialen steht der Nutzer und die Nachbarschaft des Gebäudes“
soweit die Behauptung auf der Webseite https://www.amwinterfeldt.com/ .
Wer, bitte schön, kann sich eine Drei-Zimmer-Wohnung für 2.126.246 € leisten? Oder eine Vier-Zimmer-Wohnung für 2.734.784 €? Vermutlich wird ein Teil der Wohnungen als Kapitalanlage verkauft werden, von Leuten, die diese dann leerstehen lassen, weil sie nicht auf die Vermietung angewiesen sind.
Wie kommt es zu diesem städtebaulichen Fiasko?
Im Juni hatte der Quartiersrat Baustadtrat Oltmann aufgefordert ein Bebauungsplanverfahren durchzuführen mit Beteiligung der Bürger. In seiner Antwort ließ Herr Oltmann verlauten, es gäbe „kein Planerfordernis“ und außerdem zeigte er sich begeistert, dass hier der gründerzeitliche Stadtgrundriss wiederhergestellt würde. Link zum Antwortschreiben des Baustadtrates vom 30.06.21 an den Quartiersrat.
Nur, was ist mit den in vielen Wahlkampfreden beschworenen Zielen: Klimaschutz und Bau bezahlbaren Wohnraums? Mit der Aufstellung eines Bebauungsplans hätte der Bezirk genau diese Ziele verfolgen können. Dank der kommunalen Planungshoheit kann der Bezirk sich städtebauliche Ziele setzen und diese mit der Aufstellung von Bebauungsplänen verfolgen, siehe Baugesetzbuch §1, Absatz 3:
Die Gemeinden haben die Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist; die Aufstellung kann insbesondere bei der Ausweisung von Flächen für den Wohnungsbau in Betracht kommen.
Mit der rechtzeitigen Aufstellung eines Bebauungsplans hätte der Bezirk durchsetzen können, dass mindesten ein Drittel der neuen Wohnungen als Sozialwohnungen angeboten werden und gleichzeitig praktischen Klimaschutz betreiben können. Beides ist erforderlich für die städtebauliche Entwicklung. Beides wäre möglich gewesen.
Stattdessen wurde ein vermeintlich besserer, weil historischer Stadtgrundriss beschworen, dessen Herstellung alles andere untergeordnet wird. So wie der gründerzeitliche Stadtgrundriss in 1960er und 1970er Jahren verteufelt und blockweise abgerissen wurde – mit dem gleichen blindem Eifer wird er heute idealisiert. Damals waren 10 Jahre Mieterbewegung und schließlich die Hausbesetzerbewegung notwendig, um die Kahlschlagsanierung endlich zu stoppen.
Für eine Wende zu einer sozialen und klimafreundlichen Stadtentwicklung bleibt uns heute nicht mehr soviel Zeit.
Die Petition „Wohnen muss für alle möglich sein: Keine Luxus-Wohnungen im Winterfeldt-Kiez!“ läuft immer noch.
Auf seiner Facebookseite hat Bertram von Boxberg behauptet, die Linken seien schuld an dem Fiasko. Damit stiehlt Bertram von Boxberg sich und die Grünen aus der Verantwortung.
Denn die letztendliche Erteilung der Baugenehmigung durch die oberste Bauaufsicht auf Ebene der Senatsverwaltung war nur der Schlusspunkt einer Fehlentwicklung. Die Fehlentwicklung wurde in Bezirk eingeleitet, indem Verwaltung und grüner Baustadtrat sich weigerten einen Bebauungsplan aufzustellen. Angeblich gäbe es „kein Planerfordernis“ wurde dort stereotyp immer wieder wiederholt. Der Meinung kann aber nur jemand sein, der meint, mit dem 60 Jahre alten Baunutzungsplan als planungsrechtliche Grundlage seien die heutigen Probleme zu lösen. Wir sehen hier sehr deutlich, dass dies nicht der Fall ist. Die oberste Bauaufsicht auf Senatsebene musste jedoch auf Basis dieser veralteten planungsrechtlichen Grundlage entscheiden, weil der Bezirk es versäumt hatte, einen Bebauungsplan aufzustellen, mit dem mindesten 30% Sozialwohnungen und eine klimagerechte Entwicklung möglich gewesen wären.